Presserecht: Dringlichkeit bei Unterlassungsanspruch, Titulierung als „Nazi“ kann zulässige Meinungsäußerung sein

Das OLG Stuttgart hatte sich mit Urteil vom 23.09.2015, Az. 4 U 101/15 mit der Frage zu beschäftigen, wie lange bei einer einstweiligen Verfügung die Dringlichkeit noch gegeben ist und ob die Bezeichnung einer Person als „Neonazi“ eine Meinungsäußerung oder eine Tatsachenbehauptung einzustufen ist. Die Leitsätze der Entscheidung:

1. In Pressesachen ist der Verfügungsgrund für ein Unterlassungsbegehren gewöhnlich ohne Weiteres gegeben, wenn keine Selbstwiderlegung der Dringlichkeit, insbesondere durch zu langes Zuwarten, gegeben ist.

2. Ein Zuwarten des Antragstellers von mehr als acht Wochen bzw. zwei Monaten ab dem maßgeblichen Zeitpunkt der Erlangung der Kenntnis von der Rechtsverletzung widerlegt regelmäßig die Dringlichkeit.

3. Die Bezeichnung eines Anderen als „(bekannter) Neonazi“ stellt in der Regel eine Meinungsäußerung dar. Sie kann aber abhängig von den Umständen des konkreten Einzelfalls, insbesondere vom Zusammenhang, in dem sie fällt, auch als Tatsachenbehauptung einzustufen sein. Letzteres ist insbesondere dann der Fall, wenn eine gegenwärtige oder frühere Zugehörigkeit zu einer bestimmten Partei oder Gruppierung behauptet wird.

4. Äußert oder billigt gemand öffentlich, etwa als „Blogger“ oder auf Veranstaltungen, typisches rechtsradikales Gedankengut, kann sich die Bezeichnung dieser Person als „bekannter Neonazi“ auf ausreichende tatsächliche Bezugspunkte stützen und stellt eine zulässige, nicht als Schmähkritik einzustufene Meinungsäußerung dar.

Aus den Entscheidungsgründen:

Die Eilbedürftigkeit (Dringlichkeit) wird im Äußerungsrecht regelmäßig daraus abgeleitet, dass mit einer jederzeitigen Wiederholung der beanstandeten Äußerungen zu rechnen ist, was bei Medien ohne weiteres angenommen werden kann. In der Praxis des Äußerungs- und Presserechts wird ein Verfügungsgrund, wenn keine Selbstwiderlegung der Dringlichkeit, insbesondere durch Zuwarten gegeben ist, regelmäßig ohne weiteres bejaht. Die Selbstwiderlegung der Dringlichkeit durch zu langes Zuwarten ist als allgemein anerkannter Grundsatz des einstweiligen Rechtsschutzes im Zivilprozessrecht anzusehen. Ein solches ist nach der Rechtsprechung des Senats in der Regel bei einem Zuwarten von mehr als 8 Wochen bzw. 2 Monaten ab Kenntniserlangung von der Rechtsverletzung anzunehmen.

Wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 19.12.1991 (1 BvR 327/91; NJW 1992, 2013) zutreffend ausgeführt hat, lässt der Begriff „Nazi“ bei isolierter Betrachtungsweise schon wegen der Weite seines Bedeutungsgehaltes verschiedenste Verwendungsweisen zu, die von einer streng historischen Terminologie bis zum substanzlosen Schimpfwort reichen. Der Aussagegehalt der Bezeichnung einer Person als „Nazi“ ist infolgedessen abhängig von dem jeweiligen Gebrauch, insbesondere vom Gesamtzusammenhang des Textes, in dessen Rahmen er verwendet wird. Nichts anderes gilt für den davon abgeleiteten Begriff „Neonazi“ und den Begriff „Neofaschist“.

Zu Recht hat das Landgericht in diesem Zusammenhang angenommen, dass die (verfassungs- und obergerichtliche) Rechtsprechung die Bezeichnung einer Person als „(Neo-)Nazi“ in der Regel als Meinungsäußerung einordnet, weil dieser Begriff eindeutig Elemente eines Werturteils enthält, denn er stellt gewöhnlich eine schlagwortartige Qualifizierung einer politischen Einstellung oder Geisteshaltung einer Person dar. Die (plakative) Bewertung tatsächlicher Vorgänge oder Umstände stellt aber ein Werturteil und mithin eine Meinungsäußerung dar. Dies schließt es allerdings nicht aus, dass sich je nach den Umständen des konkreten Einzelfalls aus dem Kontext ergibt, dass mit der Bezeichnung einer Person als „(Neo-)Nazi“ eine dem Wahrheitsbeweis zugängliche Tatsache behauptet wird, etwa dann, wenn eine – gegebenenfalls frühere – Parteizugehörigkeit behauptet wird.

-> Die Frage der Dringlichkeit wird in der Rechtsprechung unterscheidlich beurteilt. Grundsätzlich gilt: Je schneller eine einstweilige Verfügung beantragt wird, desto besser. Ab 6 Wochen wird es schon eng, 8 Wochen sind mitunter noch ausreichend, länger sollte es aber auf keinen Fall dauern.